Hochverarbeitete Lebensmittel sind heute in Supermärkten allgegenwärtig und machen inzwischen einen nicht unerheblichen Teil unserer Ernährung aus. Spitzenreiter sind neben Nordamerika und Australasien auch Westeuropa, in Deutschland beträgt der Anteil an hochverarbeiteten Produkten in der Ernährung im Durchschnitt 39 Prozent. In der ernährungswissenschaftlichen Forschung nimmt dieses Thema einen immer höheren Stellenwert ein. Umso wichtiger ist es, inmitten der Flut an Informationen und Erkenntnissen den Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu hochverarbeiteten Lebensmitteln zu behalten. Zu diesem Zweck haben in diesem Sommer sowohl das österreichische „forum. ernährung heute“ (f.eh) – in Abstimmung mit seinem wissenschaftlichen Beirat – als auch der Ernährungsradar des bayerischen KErn (Kompetenzzentrum für Ernährung), der Universität Bayreuth und der Akademie für Neue Medien (Bildungswerk) e. V. Überblicke über die neuesten und wichtigsten Forschungsergebnisse veröffentlicht.
Hochverarbeitete Lebensmittel – aktueller Diskussionsstand
„Hochverarbeitet“ ist Definitionssache
Grundsätzlich ist die Verarbeitung von Lebensmitteln völlig normal und findet in jedem Haushalt statt. Kartoffeln kochen oder aus Obst im Garten Marmelade einkochen sind ebenso Verarbeitungsprozesse wie das industrielle Verarbeiten. Aber was gilt eigentlich als hochverarbeitet? Genau dabei sind sich Expertinnen und Experten bisher nicht einig. Es gibt eine Reihe an internationalen Klassifikationssystemen, die Lebensmittel unter dem Kriterium des Verarbeitungsgrades kategorisieren. Ziel dabei ist die Erhaltung der Gesundheit von Verbraucherinnen und Verbrauchern, heißt es. Allerdings unterscheiden sich die verschiedenen Systeme untereinander teilweise erheblich. Besonders gängig ist das NOVA-Klassifikations-system sowie das basierend auf NOVA weiterentwickelte SIGA-System.
Der Begriff „hochverarbeitet“ kommt aus dem Englischen, man spricht von sogenannten „ultra-processed foods“ (UPFs). NOVA unterscheidet zwischen vier Kategorien: unverarbeitete Lebensmittel, verarbeitete Küchenzutaten, verarbeitete und hochverarbeitete Lebensmittel. Damit unterscheidet sich dieses System vom EU-Lebensmittelrecht, das lediglich die Kategorien ‚verarbeitet‘ und ‚unverarbeitet‘ vorsieht. Laut Ernährungsradar haben verarbeitete Lebensmittel aus Sicht des EU-Gesetzgebers „eine ‚wesentliche Veränderung‘ erfahren – etwa durch ‚Erhitzen, Räuchern, Pökeln, Reifen, Trocknen, Marinieren, Extrahieren, Extrudieren oder durch eine Kombination dieser verschiedenen Verfahren‘“. „Hochverarbeitet“ ist also eine Sache der Definition.
Zivilisationskrankheiten fußen nicht auf einer singulären Ursache
Die Frage, ob hochverarbeitete Lebensmittel gesundheitlich nachteilig sind, beschäftigt die Wissenschaft seit Jahrzehnten. Ein Großteil der dazu durchgeführten Studien gilt als qualitativ niedrig, ihre Aussagekraft ist also fragwürdig. Fakt ist: Zwar konnten teilweise Zusammenhänge zwischen hochverarbeiteten Lebensmitteln und Zivilisationskrankheiten beobachtet werden, solche Krankheiten können allerdings nachweislich viele Ursachen haben. Das „f.eh“ stellte dazu im Juli 2024 fest: „Es zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen dem Konsum ‚hochverarbeiteter‘ Lebensmittel und dem Risiko für Übergewicht und Adipositas, Bluthochdruck, Diabetes Typ 2 sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, jedoch keine Ursache-Wirkungs-Beziehung.“ Korrelation ist also nicht gleich Kausalität. Faktoren wie sozioökonomischer Status und Bewegung erhöhen das Risiko, an einer solchen Zivilisationskrankheit zu erkranken, genauso wie etwa die genetische Veranlagung.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) meldet in ihrem den hochverarbeiteten Lebensmitteln gewidmeten Kapitel im 15. DGE-Ernährungsbericht (vorveröffentlichtes Kapitel) durchaus Bedenken an. Zwar heißt es darin: „Für die Endpunkte Übergewicht/Adipositas, Hypertonie, T2DM und CVD ist ein hoher UPF-Verzehr mit einem höheren Erkrankungsrisiko im Erwachsenenalter assoziiert.“ Das Gros der zugrundeliegenden, für den Bericht betrachteten 37 Studien weise aber ein hohes (andernfalls: mittleres) Verzerrungsrisiko auf. „Für ein differenziertes Verständnis der im Zusammenhang mit UPF diskutierten Wirkmechanismen (u. a. Energiedichte, Lebensmittelstruktur/-matrix, Prozesskontaminanten und Zusatzstoffe) und/oder deren Kombinationen mit Gesundheitsrisiken sind einheitliche Kriterien, valide Erhebungsinstrumente sowie die Durchführung weiterer Studien, insbesondere Interventionsstudien, notwendig.“ Die Anwendung des NOVA-Klassifizierungssystems zur Einordnung von Lebensmitteln nach ihrem Verarbeitungsgrad seit mit Einschränkungen verbunden.
Hochverarbeitete Lebensmittel haben viele Vorteile
Verbraucherinnen und Verbraucher greifen nicht umsonst oft zu hochverarbeiteten Lebensmitteln, denn diese haben viele Vorteile. Diese Produkte sind in aller Regel länger haltbar als frische, und sparen zudem in der Küche viel Zeit, sodass das Kochen oder Zubereiten von Speisen schneller von der Hand geht. Auch können Verbraucherinnen und Verbraucher darauf vertrauen, dass z.B. möglicherweise vorhandene Keime bei der industriellen Herstellung abgetötet werden. Industriell gefertigte Produkte sind somit üblicherweise mikrobiologisch einwandfrei und sicher zu verzehren. Das sollte als Errungenschaft verstanden werden.
Es kommt auf die Gesamternährung und den Lebensstil an
Insgesamt betrachten Expertinnen und Experten Klassifikationssysteme wie NOVA durchaus kritisch, wie sowohl beim „f. eh“ als auch beim Ernährungsradar festgestellt. Unter die Kategorie „hochverarbeitet“ fallen nämlich prinzipiell alle Produkte, die industriell hergestellt sind. So gilt z. B. auch Säuglingsnahrung als hochverarbeitetes Lebensmittel. Aus diesem Grund war sich die Expertenrunde der British Nutrition Foundation im Jahr 2022 einig, dass grundsätzliche Empfehlungen gegen hochverarbeitete Lebensmittel, wie sie einige Länder aussprechen, bei Verbraucherinnen und Verbrauchern eher Verwirrung als Aufklärung stiften. Das „f.eh“ kommt daher zu folgendem Fazit: „‚Hochverarbeitete‘ Lebensmittel können sich im Alltag durchaus mit einer gesunden Ernährung vereinbaren lassen. Wichtig ist, die Lebensmittel sorgfältig auszuwählen, auf eine ausgewogene Zusammenstellung des Speiseplans und auf adäquate Portionsgrößen zu setzen. Die nationalen Ernährungsempfehlungen geben eine gute Orientierung dafür. Zudem gilt es, den gesamten Lebensstil zu berücksichtigen, aktiv zu sein, gut und ausreichend zu schlafen sowie auf die psychische Gesundheit zu achten.“ Wer sich also im Alltag abwechslungsreich und ausgewogen ernährt, kann in Maßen durchaus zu hochverarbeiteten Lebensmitteln wie z.B. Schokolade oder Chips greifen und diese genießen. Das „forum.ernährung heute“ stellt in seinem Beitrag über UPFs auf seiner Webseite letztlich fest: „Führende Ernährungsgesellschaften und Berufsverbände (z. B. DGE, ÖGE, SGE, VDOE) lehnen die Einteilung von Lebensmittel in ‚gesund‘ und ‚ungesund‘ ab. Entscheidend ist vielmehr, wie viel wovon gegessen wird.“