von Professor Dr. Peter Stehle, Professor für Ernährungsphysiologie i. R., Universität Bonn
Gesundheitsorientierte Qualitätsbewertung („Nutri-Score“) von Lebensmitteln als Maßnahme zur Beeinflussung des individuellen Ernährungsverhaltens
Paradigmenwechsel in der Politik
Im Vergleich zu früheren Maßnahmen der Ernährungspolitik kommt dies einem Paradigmen-Wechsel gleich: Es wird nicht mehr die Kostform im Ganzen (Gesamtauswahl an Lebensmitteln bzw. Ernährungsmuster), sondern es werden die einzelnen (verpackten) Lebensmittel hinsichtlich möglicher gesundheitlicher Wirkungen bewertet. Und dies, obwohl die wissenschaftliche Sinnhaftigkeit der (ernährungsphysiologischen bzw. gesundheitlichen) Bewertung einzelner Lebensmittel immer noch kontrovers diskutiert wird.
Wissenschaftlich bisher ausgeschlossene Bewertung einzelner Lebensmittel
In diesem Zusammenhang muss die Frage beantwortet werden, ob entsprechende plakative Maßnahmen auf den Lebensmittelverpackungen in der Praxis „ankommen“ und umgesetzt werden. Am Beispiel des in den Europäischen Staaten als freiwillige Maßnahme von der Politik und nachfolgend von der Lebensmittelindustrie eingeführten „Nutri-Score“ (front-of-pack nutrition label, FoPL) sollen diese und weitere Aspekte reflektiert werden. Fest steht: Das Konzept des „Nutri-Score“ beruht gerade auf der von der Wissenschaft bislang ausgeschlossenen gesundheitsorientierten Bewertung von einzelnen Lebensmitteln.
Ungerechtfertigte Stigmatisierung bestimmter Lebensmittel und weitere Schwächen des Nutri-Scores
Aus Sicht des Autors wird die Etablierung des „Nutri-Score“-Rankings als FoPL folglich nicht dazu beitragen, das Ernährungsverhalten der Verbraucherschaft mittel bis langfristig zu verändern. Neben der Tatsache, dass die Qualitätsbewertung ausschließlich auf der Annahme eines Zusammenhanges zwischen dem Konsum einzelner Lebensmittel und der täglichen Gesamtenergie- und Nährstoffaufnahme beruht, fehlen auch Aussagen zu Verzehrshäufigkeiten und -mengen. Das „Runterbrechen“ von wissenschaftlich bestätigten, gesundheitsrelevanten Effekten von Ernährungsmustern (z. B. mediterrane Ernährung) auf die Ebene einzelner Lebensmittel ist generell wissenschaftlich nicht motiviert und führt zu einer ungerechtfertigten Stigmatisierung bestimmter Lebensmittel. Fälschlicherweise suggeriert das Logo, dass eine an „Farben“ orientierte Auswahl an Lebensmitteln ausreicht, die Ernährung im Sinne der Gesunderhaltung zu optimieren. Und: Was in der heimischen Küche passiert, bleibt größtenteils ebenso unberücksichtigt. Dies wiederum aber ist ein Problem aller Lebensmittel-Logos.
Entscheidend für das individuelle Ernährungsverhalten sind persönliche (Geschmacks-)Vorlieben, Lebensumstände, Traditionen, Religion etc. Eine anhaltende Änderung des individuellen Ernährungsverhaltens ist somit nur dann zu erwarten, wenn das Verständnis für alle Aspekte der Ernährung vorliegt; dieses Verständnis kann nur durch fundierte, wissenschaftlich geprüfte Maßnahmen der Ernährungs- und Lebensstilbildung vermittelt werden.
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