Wir leben in einer nutritiven Überflussgesellschaft, in der das Nahrungsangebot nahezu unerschöpflich zu sein scheint, zumindest in Deutschland und Westeuropa.

Weniger ist oft mehr — das stimmt durchaus. Die Tugend der Mäßigung ist also grundsätzlich wichtig.

Aber sie sollte sich nicht in einer Art radikalisieren wie derzeit das weitverbreitete Schlankheitsideal. Es sollte vielmehr immer individuelle Spielräume geben. Dazu gehört, dass wir in unserer Staatsform Demokratie stets vom aufgeklärten, mündigen und selbstverantwortlich denkenden und handelnden Bürger ausgehen müssen. Allein dies in Frage zu stellen, kommt einem fatalen Signal gleich. Die Bürgerinnen und Bürger können und sollten sich fragen, was Mäßigung für sie bedeutet, wie sie diese umsetzen bzw. leben können und welche individuellen Spielräume mit ihr verbunden sind.

von Professor Dr. Johann Christoph Klotter, Hochschule Fulda, Fachbereich Oecotrophologie

Es gilt das Menschenbild der Aufklärung

Um verstehen zu können, wie heute mit Essen und Trinken politisch und gesellschaftlich umgegangen wird, muss das Essen historisch verortet werden: Wir leben in einer  einmaligen Situation, der Überflussgesellschaft. Das fast die gesamte Menschheitsgeschichte bestimmende Thema des Hungers und des möglichen Verhungerns ist in vielen Ländern weitgehend verschwunden. Stattdessen müssen wir heute eine Handhabung des Überflusses erproben. Die Zeit, in der wir leben, steht nicht nur unter dem Zeichen des Überflusses, sie ist auch geprägt vom Menschenbild der Aufklärung, wonach das menschliche Verhalten bestimmt ist durch Vernunft und Wille. Dieses Menschenbild fundiert das Selbstverständnis der meisten Menschen. So verzeihen sich viele nicht, dass sie entgegen den Vorsätzen ihres Verstandes zu viel und unkontrolliert essen. Dieses Menschenbild ist zu guten Anteilen ein nicht einzulösendes Ideal. So ist das Essverhalten überwiegend vom Unbewussten und von Emotionen bestimmt. Eine der ältesten  Gehirnregionen, das Limbische System, verlangt bedingungslos Belohnung. In der Überflussgesellschaft ist Essen und Trinken die einfachste Form der Belohnung. Somit kollidiert das Essensangebot in der Überflussgesellschaft mit unserem aufklärerischen Menschenbild. Kollision ist noch ein vorsichtiger Terminus. Von einem tendenziell unlösbaren Konflikt könnte auch gesprochen werden.

"Die staatliche Reglementierung des Essens, etwa durch dessen fortschreitende Akademisierung, provoziert wohl mehrheitlich eines: Reaktanz."

Ein weiterer tendenziell unlösbarer Konflikt tut sich auf. In den letzten 200 Jahren, in der Moderne, begreifen wir das Essen als etwas Privates, in das sich der Staat nicht einzumischen hat. Zugleich versteht sich dieser moderne Staat als angewiesen auf eine gesunde und leistungsstarke Bevölkerung. Selbstverständlich versucht er dann, den Gesundheitsstatus der Bevölkerung zu verbessern. Er ruft eine Ernährungswissenschaft ins Leben, die herausfinden soll, welche Ernährung für die Bevölkerung optimal ist. Es tun sich also gleichsam zwei Lager auf: Staat und Gesundheitsexpertinnen und -experten drängen auf eine gesunde Ernährung, die Bevölkerung erlebt dies zu Anteilen als Zwang und unangemessenen Übergriff.

Es fehlt eindeutig eine Verständigungskultur

Und dann ist auch noch jeder Mensch in sich potenziell zerrissen zwischen dem Angebot der Überflussgesellschaft und dem Menschenbild der Aufklärung. Ein weiterer Konflikt tut sich auf: Wir gewinnen über das, was wir essen und trinken, kulturelle und soziale Zugehörigkeit, also psychosoziale Identität. Das kann mit dem Konzept einer gesunden Ernährung kollidieren. Kulturelle Zugehörigkeit kann etwa erfahren werden über den  Konsum und die Lebensmittelauswahl. Psychosoziale Identität ist vielen Menschen unvergleichlich wichtiger als eine gesunde Ernährung.

Der Autor zielt ab auf eine Verständigungskultur zwischen Politik, wissenschaftlichen Disziplinen und gesellschaftlichen Gruppen. Insbesondere die Politik sollte verstehen lernen, dass Essen und Trinken sich nicht auf Physiologie reduzieren lassen, sondern dass diese alltägliche kulturelle und soziale Praktiken sind. Die Bevölkerung in die Ecke zu stellen, schafft eine negative Beziehung, die einen inhaltlichen Austausch erheblich erschwert. Zugleich sollte die Bevölkerung die Verantwortung für ein gutes Essen und Trinken nicht an den Staat delegieren und sich selbst in Untätigkeit sonnen.

Die ausführliche Veröffentlichung von Professor Dr. Johann Christoph Klotter finden Sie in der aktuellen Ausgabe der "Nachrichten aus der Wissenschaften" des Lebensmittelchemischen Instituts (LCI) des BDSI. Sie können den Beitrag hier kostenfrei herunterladen.

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