Essen ist mehr als nur Geschmack: Es ist ein Erlebnis, das nicht nur einen, sondern alle fünf Sinne anspricht. Während ein Lebensmittel vor uns liegt, nehmen unsere Augen es wahr und rufen im Gehirn Einordnungen, Bewertungen, Erinnerungen und mehr ab. Auch unsere Nase merkt dann meistens schon, ob der Geruch ansprechend ist oder nicht. Strömt uns ein angenehmer Duft entgegen oder riecht es für uns eher unangenehm? Auch hier sorgen im Gehirn abgespeicherte Erinnerungen unmittelbar für verstärkende Reaktionen, sofern wir schon Erfahrungen mit dem Lebensmittel gemacht haben. Nehmen wir das Produkt in die Hand, fühlen wir die Oberfläche – ist sie fest oder weich? Glatt oder rau? Und befindet sich das Essen schließlich in unserem Mund, kommt endlich auch der Geschmackssinn dazu, und wir bemerken die Textur ebenso wie die Aromen. Der Ablauf der verschiedenen Sinnesaktivierungen geschieht zwar automatisch, ist aber gleichzeitig eine Wissenschaft, genannt Sensorik. Sensorik befasst sich mit eben dieser menschlichen Wahrnehmung von Lebensmitteln und hat sich Qualitätssicherung und Produktentwicklung als Ziele gesetzt.
Konkret werden im Rahmen der Sensorik von Lebensmittelherstellern sogenannte sensorische Analysen durchgeführt, wobei Erkenntnisse über objektive und subjektiv wahrgenommene Produkteigenschaften gewonnen werden sollen. Dafür werden Testpersonen zuerst sorgfältig ausgewählt und dann zusätzlich intensiv geschult, um möglichst gut auf die sensorische Produktbewertung vorbereitet zu sein – die menschliche Wahrnehmung läuft nämlich so automatisch ab, dass Laien oft Schwierigkeiten haben, die sensorischen Eindrücke akkurat zu benennen und zu erklären. Genau das ist aber wichtig, denn um Produkte weiterzuentwickeln und qualitativ zu verbessern, müssen Hersteller über die Vorlieben und Eindrücke der Verbraucher bestmöglich Bescheid wissen.
In den letzten Jahrzehnten ist die Sensorik als Disziplin stetig gewachsen. Umso wichtiger ist es, diese Wissenschaft weiter zu verfolgen. Deshalb konnten die Top-Sensorikthemen identifiziert werden, die in den nächsten Jahren für das Feld von besonderer Relevanz sein werden:
1. Ernährungswende weiter unterstützen
Mithilfe von Sensorikforschung und Sensoriktests kann die Akzeptanz innovativer Nahrungskomponenten, wie neue Proteinquellen (z. B. durch Insekten), erhöht und damit das Thema Ernährungswende im Rahmen der planetaren Grenzen nachhaltig unterstützt werden. Eine Rolle könnten auch „nachgebaute“ Produkte auf Basis von teils neuen Erzeugerprozessen mit Hefen und Bakterien in sogenannten Bioreaktoren sein. So haben Ingenieure zusammen mit Sensorikern daran gearbeitet, verschiedene Öle aus Hefen zu produzieren, die am Ende mit den Fettsäuremustern von Butter und Soja - oder Palmöl optisch und teils auch geschmacklich vergleichbar sind – in jedem Fall aber den gleichen Schmelzpunkt aufweisen und haptisch nahezu identisch sind. In der Anwendung verhalten sie sich also wie ihre originalen Vorbilder. Die Erzeugung von Fetten aus „trainierten“ Hefen fußt sogar auf einer längeren Historie. Denn bereits um 1916/1917, so berichten Experten, sollten erste hefebasierte Ersatzprodukte den Mangel an Butter und anderen tierischen Fetten kompensieren. In den 1970er Jahren wurde wohl erstmals Kakaobutter in größerem Stil von Hefen „nachgeahmt“. Ob solche Anwendungen für die Lebensmittelindustrie in der EU nutzbar werden, hängt von vielen Faktoren ab – wie der Preisstellung, der Mengenverfügbarkeit, dem ökologischen Fußabdruck (Stichwort Emissionen) oder aber der Bewertung von Lebensmittelsicherheit, und da müssen jüngste Produktkonzepte wohl erst noch die Hürde des europäischen Novel-Food-Verfahrens erfolgreich nehmen und ihre Unbedenklichkeit für den menschlichen Verzehr nachweisen, so Branchenkenner.
2. Praxisnahe Methoden weiterentwickeln
Nicht jedes Lebensmittelunternehmen kann und möchte Sensorik für Produktkontrolle und -entwicklung nutzen. Durch bessere und aussagekräftigere Schnellmethoden wird der zeitliche Aufwand verringert, sodass mehr Unternehmen Sensorik nutzen und davon langfristig profitieren können.
3. Experten- vs. Konsumentensensorik
Geschulte Sensorikexpertinnen und -experten oder Laien – wer ist besser darin, Lebensmittel praxisnah zu beschreiben? In jedem Fall müssen geeignete Schulungskonzepte entwickelt werden.
4. Innovationskraft von Start-ups nutzen
Thinking outside the box! Innovationskraft in der Lebensmittelbranche geht oft auch von Start-ups aus. Umso wichtiger ist es, diese zu nutzen und die Start-ups gleichzeitig bei der Qualitätssicherung ihrer Arbeit zu unterstützen. Am Ende geht es schließlich bei jeder neuen Zutatenkombination vor allem um eines: den Geschmack.
5. Regionale Produkte fördern
Regionale Spezialitäten sind in der globalisierten Welt von wachsender Bedeutung für Verbraucherinnen und Verbraucher – und somit auch für die Ernährungsbranche. Aber was gilt aus sensorischer Perspektive als ein „authentisch regionales“ Produkt? Die Europäische Gesellschaft für Sensorik (E3S – www.e3sensory.eu) befasst sich in einer eigens dafür gegründeten Arbeitsgruppe mit dieser und anderen Fragen.
6. Gastronomie und Handwerk in Produktentwicklungen einbinden
Gastronomie, Handwerk und Sensorik sollten nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Vielmehr kommt es darauf an, die Chancen der individuellen kreativen Ansätze der Branchen mit der wissenschaftlichen Seite der Sensorik zu verknüpfen und Produkte somit innovativ weiterzuentwickeln. Erste Erfolge gibt es bereits: Das „food lab muenster“ (www.food-lab-muenster.de) gilt als deutscher Vorreiter dieses Ansatzes. Als Thinktank und Ort für Innovation wird mit Hülsenfrüchten experimentiert und arbeiten Forschende und Studierende an und mit Insekten für den Lebensmitteleinsatz.
7. Digitale Sensorik / Sensorik 4.0
Digitale Technologien sind die Zukunft. Technologien wie Virtual Reality- und KI-Anwendungen spielen auch für die Sensorik eine immer größere Rolle. Die Lebensmittelindustrie kann sich die Verarbeitungsmöglichkeit von großen Datenmengen in Kombination mit der immer rasanteren Entwicklung neuer Sensortechnik zu Nutzen machen. Zusätzlich zu menschlichen Testpersonen wird also ein weiterer Faktor geschaffen, der bei der optimalen Produktentwicklung und Qualitätssicherung hilft.
8. Wertschätzung für Lebensmittel
Um Lebensmittelverschwendung entgegenzuwirken, ist Wertschätzung für Lebensmittel unabdingbar. Auch dabei kann Sensorik helfen: Innovative Projekte wie sensorische Sinnesparcours tragen bei Kindern und Jugendlichen zu einem bewussteren Umgang mit den eigenen fünf Sinnen bei. Auch gemeinsames Kochen und die damit verbundenen sensorischen Erfahrungen unterstützen schon in jungem Alter das wertschätzende Essverhalten.
Kaum etwas prägt Lebensqualität so sehr wie die Esskultur, und kaum etwas ist so emotional für Menschen wie Essen. Dabei werden Genuss und Ekel unter anderem durch die sensorische Wahrnehmung ausgelöst, was wiederum zusätzlich von begleitender Information, Kommunikation und sozialer Interaktion beeinflusst wird. Deshalb ist es umso wichtiger, zu untersuchen, was genau die sensorischen Triggerpunkte sind und was in diesem Zusammenhang dazu führt, Lebensmittel zu akzeptieren oder abzulehnen. Mehr Wissen bedeutet höhere Produktqualität.
10. Gesundheit und Genuss vereinen
Ernährung ist nicht nur Genuss, sondern auch Gesundheit. Um Genuss und Gesundheit möglichst sinnvoll miteinander zu verbinden, beschäftigen sich Forscher der Sensorik mit neurologischen Aspekten sowie mit Aspekten der Verhaltensökonomie. Was während der Nahrungsaufnahme im Gehirn passiert, wird dort ebenso untersucht wie die Frage, wie unser Essverhalten durch unterschiedliche sensorische Wahrnehmungen gelenkt wird.
Die Zukunftsthemen der Sensorik zeigen, wie vielfältig diese Wissenschaft ist und welches enorme Potential in unserer Wahrnehmung steckt. Von regionaler Produktförderung über Lebensmittelwertschätzung bis hin zu Zukunftstechnologien – die Sensorik kombiniert Theorie mit praktischer Anwendung und innovativen Konzepten, von denen auch die Verbraucherinnen und Verbraucher kontinuierlich profitieren werden.