Viele Menschen schätzen ihr Körperbild falsch ein.

Viele Menschen schätzen ihr Körperbild falsch ein

Eine neue Studie der Medizinischen Universität Silesia in Kattowitz, Polen, hat 744 Erwachsene, darunter 452 Frauen, auf ihre jeweilige Gewichtsklassifikation gemäß Weltgesundheitsorganisation (WHO) untersucht und die Teilnehmenden zusätzlich um eine Selbsteinschätzung gebeten. Stimmten der Realitätscheck und die Eigenbeurteilung überein? Mehrheitlich ja. Aber gut 40 Prozent der untersuchten und befragten Frauen und Männer ordneten sich am Ende in die falsche Kategorie ein. Diese Erkenntnis förderten zwar bereits ähnliche Untersuchungen in der Vergangenheit zu Tage; dennoch lohnt sich der genauere Blick erneut.

Die Teilnehmenden waren etwa 36 Jahre alt (plus/minus 12 Jahre). 21 von ihnen brachten zu wenig Gewicht auf die Waage und wurden als untergewichtig eingestuft; 326 Frauen und Männer waren normalgewichtig, 221 übergewichtig und 176 fettleibig.

Die Wahrnehmung von Körpergröße und -umfang sowie die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper wurden mit Hilfe des „Figure Rating Scale“ (FRS) von Stunkard bewertet. Zusätzlich wurden die Teilnehmer gefragt: „Glauben Sie, dass Sie untergewichtig/normalgewichtig/übergewichtig/fettleibig sind?“ Da diese vier typischen Gewichtskategorien für viele abstrakt blieben, haben die Forschenden die Selbsteinschätzung der Teilnehmenden anhand von Schaubildern überprüft. Es wurden neun verschiedene Körpersilhouetten gezeigt. So sollte die Wahrnehmung des individuellen Gewichtsstatus beurteilt werden. Es wurden zudem das Gewicht und die Größe der Teilnehmenden gemessen, um den exakten Body-Mass-Index (BMI) nach Abschluss des FRS zu berechnen. Hier spielten auch das Geschlecht und das Alter der jeweiligen Person eine Rolle.

Gestörte Wahrnehmung von Körperbild und -gewicht

Von den Normalgewichtigen schätzten sich 39,8 Prozent als untergewichtig ein. Jede siebte Teilnehmerin bzw. jeder siebte Teilnehmer (14,4 Prozent) stufte sich sogar als übergewichtig oder fettleibig ein. Dieses Ergebnis korreliert mit früheren Untersuchungen und ist nicht unproblematisch, weil die betreffenden Personen nicht selten dem als zu hoch wahrgenommenen Gewicht mit Diäten und Co. zu Leibe rücken wollen.

Von den Übergewichtigen stufen sich 4,9 Prozent als untergewichtig, 35,7 Prozent als normalgewichtig und 4,6 Prozent als fettleibig ein. 2,7 Prozent der Probandinnen und Probanden mit Adipositas haben sich selbst als normalgewichtig und fast die Hälfte (49,9 Prozent) als übergewichtig eingestuft.

In der Gruppe der Probandinnen und Probanden, die ihre Körpersilhouette im FRS falsch bewerteten, unterschätzten Männer signifikant häufiger als Frauen die eigenen Körpermaße. Teilnehmende mit Normalgewicht waren mit dem eigenen Körperbild seltener unzufrieden als Teilnehmende mit Übergewicht und Adipositas. Der Grad der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper fiel erwartungsgemäß bei Frauen deutlicher aus als bei Männern, insbesondere wenn sie übergewichtig waren, aber nicht nur.

Vielfältige Einflussfaktoren auf Körperwahrnehmungen

Die Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass das Körperbild als multidimensionales Konstrukt konzeptualisiert ist. Es umfasst positive und negative Selbstwahrnehmungen und Einstellungen (d. h. Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen) in Bezug auf den eigenen Körper und betrifft folglich subjektive, affektive, kognitive, Verhaltens- und Wahrnehmungsprozesse. Eine falsche Einschätzung des Körperbildes bei Patientinnen und Patienten mit Bulimia nervosa und Anorexia nervosa sei bereits in anderen Studien zuvor bestätigt worden. Darüber hinaus zeige eine systematische Übersichtsarbeit von Pravina Shagar et. al., dass körperliche Unzufriedenheit ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung von Essstörungen bei Jugendlichen sei.

"Fast jede zweite Studentin mit niedrigem BMI ordnet sich als übergewichtig ein und will abnehmen, so eine andere multizentrische Studie."

Zu den Faktoren, die zur Entwicklung von Körperbildstörungen beitragen, gehören biologische Faktoren wie Geschlecht, Alter, Gewichtsveränderungen und soziokulturelle Faktoren. Die falsche Wahrnehmung von Übergewicht bei Personen im normalgewichtigen oder untergewichtigen BMI-Bereich scheint häufiger bei Frauen als bei Männern vorzukommen. Die polnischen Studienautorinnen und -autoren weisen in diesem Kontext ergänzend explizit auf die Forschungsarbeiten von Dritten hin. So wurde bei Kolleginnen und Kollegen beobachtet, dass sich deutsche Studierende im Vergleich zu litauischen Kommilitoninnen und Kommilitonen eher als dicker einstufen und als „schwerer“, als es der jeweils individuell ermittelte BMI zuließe. Darüber hinaus empfanden sich in einer anderen Studie mit 18.500 Universitätsstudentinnen und -studenten aus 22 Ländern trotz des allgemein niedrigen BMI viele als übergewichtig, versuchten sogar abzunehmen (44 Prozent der Frauen, 17 Prozent der Männer) und wandten Diäten an (14 Prozent der Frauen und 3 Prozent der Männer).

Massenmedien als Erinnerungswecker für die eigene Körperunzufriedenheit

Störungen in der Wahrnehmung des Körperbildes können extreme Auswirkungen auf das menschliche Verhalten haben. Sich selbst als übergewichtig wahrzunehmen, kann Menschen mit Normalgewicht möglicherweise zwar dazu motivieren, sich besonders an gesunde Verhaltensweisen wie eine ausgewogene Ernährung oder regelmäßige körperliche Aktivität zu halten. Sie können aber auch die Ursache für die Entstehung von Bulimie und Anorexia nervosa sein.

Verständlicherweise möchte niemand so gerne hören, er oder sie sei adipös. „Genau das ist für die Forschenden auch die wichtigste Erklärung für die starke Fehleinschätzung der Teilnehmenden in der Kategorie Adipositas. Sie wollen es nicht wahrhaben, deshalb ordnen sie sich eher in die Kategorie darunter ein“, fasst Deutschland Nova-Reporterin Inga Gebauer die Studienergebnisse aus Polen zusammen. Daher empfehlen die Forschenden auch, über die Begrifflichkeiten nachzudenken und ggf. eine revidierte Sprache anzuwenden. „Stark übergewichtig könne man sich vielleicht leichter eingestehen“, so Gebauer.

Plädoyer für einen alles in allem sensibleren Umgang

Ob Menschen ihren eigenen Körper realistisch wahrnehmen, lässt sich letztlich nur schwer objektiv messen. Eine psychologische Untersuchung mit 77 Studierenden an der Universität Bangor im Vereinigten Königreich hat sich daher der Klärung des mentalen Körperbildes angenommen. Das Ergebnis: Je schwächer das Selbstwertgefühl der Teilnehmenden ausgeprägt war und je unglücklicher die Person mit ihrem eigenen Körper war, desto breiter erschienen ihr die eigenen Hüften – völlig unabhängig vom wahren Hüftumfang. Und: Die vermeintlich typischen Hüften von Gleichaltrigen wurden konsequent umso schmaler eingeordnet, je breiter die eigenen beurteilt wurden.

Einen zum Thema Körperwahrnehmung passenden Beitrag hat auch Deutschlandfunk Nova im Februar 2022 veröffentlicht. Darin geht es um eine junge Frau, die bereits als Jugendliche unter ständiger Gewichts- und Körperkontrolle und einer verunsichernden Unzufriedenheit litt, obschon sie sogar Leistungssportlerin war. Die Folge: eine Essstörung. Dabei setzen häufig schon abwertende und abfällige Bemerkungen im Elternhaus und familiären Umfeld erste tiefe Stachel, die am Selbstwertgefühl der sich entwickelnden Person nagen können. Wissenschaftler Georgios Paslakis von der Ruhr-Universität in Bochum verweist in dem Beitrag darauf: "Wichtig ist, dass wir alle darüber nachdenken, was es bedeutet und wieviel Druck das ist, in dieser Gesellschaft zu sein und sich mit dem Körper zu beschäftigen." Er gibt überdies zu bedenken, dass eine sich potenziell krankhafte Ausprägung von Körperunzufriedenheit bereits sehr früh Bahn breche: und zwar schon im Kindesalter von etwa sechs Jahren.

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