Mehrwertarme Irreführung
Es ist ein freiwilliges, die Nähwerttabelle ergänzendes Nährwertkennzeichnungsmodell, das einzelne Lebensmittel mit jeweils einer Wertung aus diesem Skalenspektrum versieht. Diese Wertung soll Verbrauchern auf einen Blick in Sekundenschnelle Aufschluss über den ernährungsphysiologischen Wert des Lebensmittels geben (grünes A = beste Nährwertqualität bis rotes E = schlechte Nährwertqualität). „Wissenschaftlich“ legitimiert wird der Nutri-Score durch einen ihm zugrunde liegenden Algorithmus. Es wäre freilich sehr beeindruckend und vielleicht erschreckend zugleich, wenn man ein von so vielfältigen Facetten geprägtes Phänomen wie die menschliche Ernährung einfach in ein fünfstufiges Farb und Buchstabenschema pressen könnte. Bei genauerem Hinsehen kann man allerdings erkennen: Es ist ein weiterer unnötiger und wissenschaftlich unausgereifter Versuch, die Komplexität der Ernährung mit dem Holzhammer zu simplifizieren
Die Gesamternährung über einen längeren Zeitraum zählt
Es sind nicht einzelne Lebensmittel, die gut oder schlecht sind. Der Nutzen für die Gesundheit eines Menschen ergibt sich aus der von ihm insgesamt praktizierten Ernährung über einen längeren Zeitraum und nicht aus einzelnen Lebensmitteln, die zu einzelnen Zeitpunkten verzehrt werden. Deshalb werden auch Ernährungsempfehlungen stets für die gesamte Ernährung über längere Zeiträume konzipiert. Die „DGE Qualitätsstandards“, die „Kriterien für eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Verpflegung in Gemeinschaftseinrichtungen“ für die Zertifizierung von Essen zum Beispiel in Krankhäusern oder Betriebskantinen liefert, setzt „Menüzyklen“ von 4 Wochen (!) voraus. Auch Referenzwerte für einzelne Nährstoffe wie Fette, Kohlenhydrate oder Vitamine sind so zu verstehen, dass der Wert stets durch die Gesamtheit der Ernährung zu erreichen ist. Die Ernährungspyramide beispielsweise bildet solche Empfehlungen ab.
Unausgereifter wissenschaftlicher Ansatz des Nutri-Score
Die Bewertung einzelner Lebensmittel hingegen kann nicht anhand von isolierten Referenzwerten stattfinden – genau dies macht aber der Nutri-Score. Der Nutri-Score bezieht sich nur auf einzelne Lebensmittel, setzt diese aber nicht ins Verhältnis zur gesamten Ernährung. Außerdem berücksichtigt er in keiner Weise, welche Menge wie oft von dem jeweiligen Lebensmittel verzehrt wird – dies ist aber bedeutend im Kontext der Ernährung. Auch die Art der Zubereitung wird bei den Lebensmitteln, die noch eine Weiterverarbeitung im Haushalt erfahren, komplett ignoriert. Ferner werden im zugrundeliegenden Algorithmus viele gesundheitsförderliche Nährstoffe nicht beachtet. Der Nutri-Score bewertet also unterm Strich viel zu pauschal, wissenschaftlich verkürzt, nicht transparent und irreführend und stellt somit nur scheinbar eine Hilfestellung für den Verbraucher dar.
Essen ist keine Medizin, sondern Kultur
Der Nutri-Score reduziert Speisen und Lebensmittel zudem unzulässig auf ausgewählte ernährungsphysiologische Faktoren. Ernährung ist aber mehr: Sie ist Tradition, Kulturpflege, Genuss. Niemand behauptet, dass man sich hauptsächlich oder allein von Pralinen oder Schweinespeck ernähren sollte. Solche einzelnen Produkte aber per se aufgrund eines zudem verkürzten Algorithmus mit einer „Alarmstufe Rot“ zu brandmarken, rückt gerade traditionelle genussbringende Produkte in ein Licht, in das sie nicht gehören und ist geeignet, kleine und mittelständische Produzenten zu beschädigen.
Dr. Daniel Kofahl ist Ernährungssoziologe und leitet das „Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur – APEK“ in Kassel. Seit 2016 lehrt er Ernährungssoziologie an der Universität Wien und ist seit 2013 Sprecher der AG Kulinarische Ethnologie in der Deutschen Gesellschaft für Sozial und Kulturanthropologie. Kofahl forscht zu Themen der Ernährungskultur, der Ernährungspolitik sowie zu sozialen Aspekten des Genießens.