Individuelle Ernährungsempfehlungen machen Sinn. Denn: Forscher beobachten völlig unterschiedliche Stoffwechselreaktionen auf identische Mahlzeiten – selbst bei Zwillingen

Individuelle Ernährungsempfehlungen statt Gleichmacherei

Was Fachgesellschaften in ihren Ernährungsempfehlungen formulieren, ist – so betonen sie selbst – als Richtschnur für die ganze Bevölkerung gedacht. Die Empfehlungen sind also somit ein Konzept für die optimale Nährstoffversorgung aller – sie sollen die Menschen gleichermaßen gesund halten, soweit die Ernährung dazu einen Beitrag leisten kann. Durch verschiedene wissenschaftliche Studien von renommierten Forschungseinrichtungen gewinnt aber zunehmend die Erkenntnis an Bedeutung, dass pauschalisierte übergreifende Ernährungsdogmen, -richtlinien und -empfehlungen zu kurz springen.

Seit Jahren forschen Wissenschaftler in aller Welt an diesem Thema und sind überzeugt, dass es individueller Ernährungsempfehlungen bedarf. Aktuell rütteln auch Forscher des Department of Nutrition des King’s College in London in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen anderer Forschungseinrichtungen an dem bislang eher unverrückbaren Standbild der Einheitsempfehlungen. Sie haben in einer klinischen Studie mit über 1.000 Probanden aus dem Vereinigten Königreich und einer Kontrollgruppe von 100 Teilnehmenden in den USA herausgefunden: Der Stoffwechsel jedes Menschen reagiert völlig unterschiedlich auf die Nahrungszufuhr, auch wenn alle identische Mahlzeiten erhalten. Sogar bei eineiigen Zwillingen ist dies der Fall.

Völlig unterschiedliche Stoffwechselreaktionen auf identische Mahlzeiten – selbst bei Zwillingen

Es ist klar, dass Stoffwechselreaktionen auf Lebensmittel das Risiko einer stoffwechselbedingten Herz-Kreislauf-Erkrankung beeinflussen. Doch bislang fehlten dazu groß angelegte Studien. Die Autoren Sarah E. Berry, Ana M. Valdes, Tim D. Spector et al. haben sich der Frage nach den tatsächlichen Stoffwechselreaktionen von Individuen auf Mahlzeiten angenommen und in ihrer Untersuchungsreihe Antworten gesucht. Im Detail wurden 1.002 Zwillinge und nicht verwandte gesunde Erwachsene im Vereinigten Königreich für ihre Studie rekrutiert und ihre Stoffwechselreaktionen nach der Nahrungsaufnahme (postpandrial) in einer klinischen Umgebung und zu Hause unter die Lupe genommen. „Wir beobachteten zwischen den Teilnehmenden nach Verzehr von völlig identischen Mahlzeiten eine große individuelle Variabilität bei postprandialen Reaktionen sowohl für die Triglyzeride im Serum (103 % Varianz) also auch für Glucose (68 %) und Insulin (59 %)“, so die Autoren. Selbst bei Zwillingen, bei denen aufgrund der identischen Erbanlagen physiologisch gleiche Reaktionen zu erwarten gewesen wären, zeigten sich teils sehr unterschiedliche Stoffwechselantworten auf die verzehrten Lebensmittel. Dabei wurden durchaus denkbare Standardabweichungen zum Mittelwert der Bevölkerung berücksichtigt und vorhandene Vorhersagemodelle angewandt.

Personenspezifische Faktoren mit größerem Einfluss als die genetische Veranlagung

Die Fettwerte (Lipide) im Serum (Lipämie) nach der Mahlzeit wurden durch personenspezifische Faktoren wie das Darmmikrobiom stärker beeinflusst (7,1 % der Varianz) als durch die aufgenommenen Makronährstoffe aus der Mahlzeit (3,6 %). Bei den Blutzuckerwerten zeigte sich ein umgekehrtes Bild (6,0 % bzw. 15,4 %). Genetische Varianten hatten einen geringeren Einfluss auf die Vorhersagen als in den Modellen erwartet (9,5 % für Glucose, 0,8 % für Triglyceride, 0,2 % für das C-Peptid). Und persönlich veränderbare Faktoren wie konkrete Esszeiten hatten überraschenderweise einen größeren Einfluss. Es ist wohl auch so, dass der Stoffwechsel von Menschen mit schlechter Antwort auf die Makronährstoffzusammensetzung in einer definierten Mahlzeit ähnlich schlecht auf andere Mahlzeiten mit vergleichbarer Makronährstoffkomposition reagieren. Interessanterweise ist auch die zeitliche Korrelation zwischen der Glukose- und der Triglyzerid-Antwort des Stoffwechsels nach einer Nahrungsaufnahme gering.

Es gibt nicht die gesunde Ernährung für alle

Die Autoren kommen daher zu dem Schluss: „Es ist zunehmend evident, dass Gleichmacherei bei den Ernährungsempfehlungen nicht zum Ziel führt. Das stützen auch die Ergebnisse eng überwachter Versuche nach Lebensstil-Interventionen mit Menschen.“ Im Rahmen eines im Bericht beschriebenen anderen Forschungsvorhabens wurden zufällig ausgewählte 609 Personen engmaschig begleitet. Für die Dauer eines ganzen Jahres hielten sie entweder eine „gesunde fettarme“ oder eine „gesunde kohlenhydratarme“ Diät ein. Während die einzelnen Gruppen im Ergebnis ähnliche Gewichtsverluste auf die Waage brachten (zwischen minus 5 und minus 6 kg), waren die individuellen Unterschiede innerhalb der Gruppen weitaus größer: von minus 30 kg bis plus 10 kg. Auch andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen.

Starke Varianzen im Blutzuckerspiegel nach Gabe von ein und demselben Weißbrot

In Israel untersuchte der Immunologe Professor Eran Elinav vom Weizmann Institute of Science, Tel Aviv, zusammen mit einem Kollegen wie die glykämische Reaktion auf ein und dasselbe Lebensmittel bei Studienteilnehmenden ausfällt. In Spektrum der Wissenschaft berichtete Graham Lawton im Dezember 2020 darüber. Er schrieb: „In einem Experiment verglich das Forscherteam industriell hergestelltes Weißbrot mit handgemachtem Brot aus Vollkornsauerteig. (…) Die Wissenschaftler erwarteten, dass das Weißbrot stets einen höheren Glukose-Peak erzeugen würde. Aber das war nicht der Fall. `Wir waren fassungslos´, sagt Elinav. `Wenn man Leuten eine Scheibe Weißbrot gibt, erzeugt das bei manchen überhaupt keinen Peak, während der Glukosespiegel von anderen Leuten auf Diabetikerniveau ansteigt.´“

Ähnliches beobachten Forscher auch bei der Aufnahmefähigkeit von Cholesterin aus der Nahrung. Während die einen sehr hohe Resorptionsraten zeigen, zeigen andere sehr geringe. Experten unterteilen daher nach High, Intermediate und Low Absorbers.

Elinav stellte im Magazin „Spektrum der Wissenschaft“ dann auch fest: „Wir hatten gleichzeitig etwas sehr Interessantes, aber auch Beunruhigendes gelernt: dass das Paradigma der gesunden Ernährung grundlegend falsch ist. (…)“

„Uns wurde klar, dass wir nicht die Lebensmittel einstufen sollten, sondern die Personen, die sie essen.“

Was folgt daraus? Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr und somit Ernährungsleitlinien und -empfehlungen durch Fachgesellschaften haben ihre Berechtigung, etwa für die Großverpflegung. Bewertende Nährwertkennzeichnungs-Modelle auf einzelnen Lebensmitteln bleiben allerdings sehr fragwürdig.

Die Forscher des King’s College in London haben nun ein neues Modell entwickelt, das sowohl Triglyzerid- (r = 0,47) als auch glykämische (r = 0,77) Reaktionen auf die Nahrungsaufnahme vorhersagt. Die gewonnenen Erkenntnisse aus ihrer Studie und das neue Modellverfahren haben das Potenzial, für die Entwicklung personalisierter Ernährungsstrategien, sogenannter Präzisionsernährung, wegweisend zu sein.

Der Bericht zur Studie „Postprandiale Reaktionen auf Lebensmittel und Potenziale für Präzisionsernährung“ (im Original: „Human postprandial responses to food and potential for precision nutrition“) wurde auf Nature Medicine im Juni 2020 veröffentlicht und im Oktober 2020 noch einmal aktualisiert.

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